Das Bildgedächtnis des Böhmerwaldes in Krummau
Die Aufarbeitung des Bestandes des Fotoateliers Seidel, das von Josef Seidel und seinem Sohn Franz von ca. 1888 bis 1949 in der südböhmischen Kleinstadt Krummau geführt wurde, ist derzeit die Aufgabe des Entwicklungsfonds der Stadt Krummau. Im April 2005 erwarb der Entwicklungsfonds das Atelierhaus mit der vollständig erhaltenen Atelierausstattung und mit einem Depot von über 140.000 Negativen und Positiven. Zunächst wurden die fotografischen Objekte und mit ihnen das gesamte Inventar registriert und geborgen, da das Gebäude dringend saniert werden mußte.
Die Renovierungsarbeiten und die Rekonstruktion laufen nun auf Hochtouren, ebenso die Vorbereitungen für das geplante „Muzeum Fotoateliér Seidel“. Im Frühjahr 2008 sollen sich die Türen des Fotoateliers Seidel in Krummau wieder für Besucher öffnen, nach fast 60 Jahren Unterbrechung. Das Archiv des Photoateliers Seidel enthält rund 140.000 Glasplatten.
Ein Fotoatelier im Dornröschenschlaf
Franz Seidel, der zweite und letzte Fotograf des Familienunternehmens, wohnte mit seiner Frau Maria bis zu seinem Tod im Jahre 1997 im Gebäude des ehemaligen Fotoateliers in der Linzergasse (Linecká) in Krummau (Titelabb.) 1905 war es mit Atelier- und Empfangsraum, Dunkelkammern, weiteren Arbeitsräumen, Büro und Depot im Dachboden zur rein geschäftlichen Nutzung erbaut worden, ab Ende der 1930er Jahre bis 2005 wurde es auch als Wohnhaus genutzt. Dort führte das kinderlose Ehepaar Seidel ein relativ zurückgezogenes Leben. Freundschaftliche Kontakte pflegten die Seidels allerdings zu einigen Österreichern und Deutschen, darunter den Mitarbeitern des Böhmerwaldmuseums in Passau, von denen sie schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs etliche Male besucht wurden und die sich stets für die Fotografien interessierten. Diesen vertrauten Besuchern zeigte Franz Seidel gerne seine Bilder und die seines Vaters, er nahm sie mit in den Atelierraum des Hauses, ließ sie auch einen Blick auf den Dachboden werfen. Dort befanden sich einige Zehntausend Glasplattennegative: das Depot des Ateliers, das seit der Schließung durch die kommunistischen tschechoslowakischen Behörden nur noch privat genutzt wurde. Die Öffentlichkeit hatte keinen Zugang dazu.
Es war zwar bekannt, dass es im Haus noch Aufnahmen und Gerätschaften aus der Zeit des Fotoateliers Seidel geben mußte, Genaues wußte die Krummauer Bevölkerung aber nicht. Es glich daher einer kleinen Sensation, als nach dem Tod Maria Seidels im Jahr 2003 die Nachricht von der Existenz zigtausender historischer Fotografien aus Krummau und dem gesamten Böhmerwaldgebiet an die Öffentlichkeit gelangte. Nicht nur Bilder waren erhalten geblieben, sondern die komplette Atelierausstattung: Studio- und Reisekameras englischen Typs, Leinwände mit aufgemalten Hintergrundmotiven und verschiedene Ateliermöbel, die auf den alten Aufnahmen zu erkennen sind, außerdem Vergrößerungsgeräte, keramische Wannen für die Entwickler- und Fixierbäder, Kopierrahmen zur Herstellung von Fotopostkarten, Geschäftsakten und vieles mehr.
Doch was sollte nun mit diesen fotografiehistorischen Kostbarkeiten geschehen? Die in Deutschland und Österreich ansässige Erbengemeinschaft der Eheleute Seidel hatte großes Interesse daran, dass das Haus und der fotografische Nachlaß in gute Hände gelangen sollten. Robert Baierl, Historiker und Mitarbeiter des Böhmerwaldmuseums Passau, trat mit den Erben in Kontakt und setzte sich mit ihnen für die Rettung und den Erhalt des Hauses, des Inventars und des reichen Bildbestandes ein. Durch die engagierte Vermittlung Robert Baierls und Mgr. Ivan Slavíks, des stellvertretenden Direktors des Regionalmuseums in Krummau, gelang es, den Entwicklungsfonds der Stadt Krummau als Käufer für das Atelier- und Wohnhaus Seidel zu gewinnen. Mit dem Kauf verpflichtete sich der Entwicklungsfonds, das fotografische Erbe der Familie Seidel zu bewahren, an ihr bewegtes Schicksal und an ihre Bedeutung für Stadt und Region zu erinnern.
Die Anfänge des Ateliers
Noch bevor Josef Seidel, geboren 1859 in Hasel (Líska) in Nordböhmen, sein eigenes fotografisches Atelier betreiben sollte, hatte er in seiner Heimat das Handwerk des Glasschleifers bzw. Porzellanmalers erlernt. Danach ging er auf Wanderschaft, auf der er sich das Fotografenhandwerk aneignete, und verbrachte einige Zeit in verschiedenen Orten der österreichisch-ungarischen Monarchie, u.a. in Siebenbürgen, Mähren, Wien und in Rumänien. In diesen Jahren besuchte er auch Zeichenkurse, lernte retuschieren und fotografische Platten zu „präparieren“, d.h. Emulsionen herzustellen.
1888 ließ sich Seidel im südböhmischen Krummau nieder. Er arbeitete zunächst als Angestellter im Fotoatelier der Witwe Gotthard Zimmers in der Linzergasse, doch nach zwei Jahren übernahm er das Geschäft und führte es unter eigenem Namen weiter. Schon früh widmete er sich nicht nur der Porträtfotografie im Studio, sondern bereiste auch die Umgebung, den Böhmerwald, wo er Menschen, Ortsansichten und Naturschönheiten fotografierte. Die Aufnahmen aus dem Böhmerwald nutzte er zur Herstellung von Ansichtskarten, ab der Jahrhundertwende brachte Josef Seidel diese in einem eigenen Postkartenverlag heraus. Zu seinen Kunden und zu seinen Ansichtskartenmotiven gelangte Seidel zu Fuß, mit dem Fahrrad, im Winter auf Skiern, ab 1905 per Motorrad und ab 1933 mit dem Auto. Sein Geschäft florierte, und so konnte er im Jahr 1905 die freistehende Atelierhütte aus Holz durch einen repräsentativen Neubau mit großem Glasdach, geplant vom Architektenbüro C.H. Ulrich aus Berlin-Charlottenburg, ersetzen.
Das Fotoatelier als Ort der Verständigung
Um dieses kostbare Erbe bestmöglich zu bewahren, ist mittlerweile der gesamte fotografische Nachlaß aus dem Atelierhaus in ein klimastabiles Depot überführt worden. Langfristig ist die Digitalisierung des gesamten Bestandes geplant, um die Bildinformation des kompletten Fundus für die Erschließung und weitere Nutzung zur Hand zu haben. Außerdem werden dadurch die Originale geschont, sie sollen auf Dauer in einem Ruhedepot sachgerecht gelagert und so für die Zukunft bestmöglich erhalten zu werden. Einen ersten Schritt zu diesem Ziel hin stellte das von der EU geförderte Pilotprojekt vom Frühjahr 2006 dar, bei dem die 31 Findbücher und 1.000 Negative von der CD-LAB Gesellschaft zur Inventarisation und Dokumentation digitalisiert wurden; der Großteil der Projektmittel wurde vom deutschen Böhmerwälder-Verein „Glaube und Heimat“ aufgebracht. Die Digitalisierung der weit über 100.000 verbleibenden Negative ist bislang noch nicht gesichert. Derzeit nutzt der Entwicklungsfonds der Stadt Krummau EU-Gelder aus der Interreg-III-Förderung der Euregios, um die Kosten für die Restaurierung des Atelierhauses und die Einrichtung eines Museums zu bestreiten.
Bei der Planung des „Muzeum Fotoateliér Seidel“ ist es den Mitarbeitern des Entwicklungsfonds ein großes Anliegen, dass in der Ausstellung das Schicksal der grenzübergreifenden Region Böhmerwald und der Familie Seidel beleuchtet wird. Ebenso möchte man den Fotointeressierten und Gästen aus aller Welt das ursprüngliche Atelier und seine Funktionsweise zeigen und erklären. Natürlich wird man sich als Museumsbesucher auch einen Einblick in das Werk der beiden Fotografen verschaffen und so am fotografischen Gedächtnis des Böhmerwaldes teilhaben können. Wichtig ist den Museumsplanern dabei, dass die Besucher die Seidel-Bilder nicht als einzigen möglichen Blick auf die Vergangenheit, sondern als eine historische Perspektive darauf begreifen: Die Fotografien von Josef und Franz Seidel sollen die Museumsbesucher einladen, sich mit der Geschichte der Böhmerwaldregion im 19. und 20. Jahrhundert auseinanderzusetzen, sich der Vergangenheit aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern und sich darüber auszutauschen. Man erhofft sich davon, dass das Fotoatelier Seidel, neben seiner Funktion als Fotografiemuseum, auch zu einem Ort der Begegnung, des Austausches und der Verständigung von derzeitigen und ehemaligen Böhmerwaldbewohnern, von Tschechen, Österreichern, Deutschen und Menschen anderer Nationalitäten wird.
Theresa Langer
gekürzt in Auszügen aus Ausgabe 08-2008